Anlässlich des Todes von „Jonny K.“ auf dem Berliner Alexanderplatz ist wieder einmal eine stark politisierte Debatte darüber ausgebochen, ob das Jugendstrafrecht verschärft werden soll. Die Kritik richtet sich dabei hauptsächlich an die Justiz. Das ist sehr komfortabel, aber viel zu kurz gedacht. Komfortabel deshalb, weil die Gesellschaft außen vor gelassen wird, sodass keines ihrer Mitglieder sich Kritik ausgesetzt fühlt. Zu kurz gedacht, weil Strafe lediglich die Reaktion auf eine begangene Straftat ist. In meiner täglichen Arbeit als Strafverteidigerin werfen sich andere, komplizierte Fragen auf, die nie losgelöst vom konkreten Fall oder gar generell beantwortet werden können. Meine Arbeit beginnt zumeist, wenn eine Straftat begangen wurde. In der Frage nach dem Warum stoße ich oft auf ähnliche strukturelle Gegebenheiten im engsten sozialen Umfeld der Beschuldigten.
Die zu diskutierenden unbequemen Fragen müssten besispielsweise lauten: Was führt zur Bereitschaft Straftaten zu begehen? Was führt zur Eskalation? Welche Erziehungsaufgabe und Verantwortung haben Eltern?
Die Fragen sind nicht wie so oft dargestellt solche nach der angemessenen Reaktion, sondern nach Aktion in der Prävention. Das ist eine Aufgabe der Gesellschaft und damit von jedermann. Leider wird die aktuelle öffentliche Diskussion nur rudimentär geführt, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die notwendige differenzierte Betrachtung wenig populistisch geführt werden kann und die Komplexität im Übrigen jeden Senderahmen sprengen würde.
In diesem Zusammenhang freue ich mich über den folgenden Artikel aus der Süddeutschen Zeitung Online vom 31.10.2012 von Constanze von Bullion: http://www.sueddeutsche.de/panorama/toedliche-pruegelattacke-am-alexanderplatz-qualen-des-rechtsstaats-1.1511171
Tödliche Prügelattacke am Alexanderplatz Qualen des Rechtsstaats
Süddeutsche Zeitung Online 31.10.2012, 15:55
Ein Kommentar von Constanze von Bullion
Der Hauptverdächtige am gewaltsamen Tod von Jonny K. hat sich in die Türkei abgesetzt und gibt dort einer großen Boulevardzeitung ein Interview. Ein anderer Verdächtiger wurde erst mit Verzögerung festgesetzt. Sind das Symbole für das Versagen der deutschen Strafverfolgung? Nein, die Justiz hat sich in dem Fall durchaus bewährt – und verantwortlich für solche Gewaltexzesse ist nicht ein krankendes Rechtssystem, sondern die Gesellschaft.
Am Berliner Alexanderplatz ist der Fachoberschüler Jonny K. zu Tode getreten worden. Nach allem, was Ermittlern bekannt ist, haben junge Männer den 20-Jährigen geschlagen und als er am Boden lag, gegen den Kopf getreten. Er starb an Blutungen im Gehirn.
Eine Tat war das, deren Feigheit und Hemmungslosigkeit Berlin hat aufstehen lassen. Endlich. Statt den Fall entsetzt zur Kenntnis zu nehmen, um ihn ebenso schnell wieder zu vergessen, hat sich eine ausdauernde öffentliche Debatte über Gewalt entzündet – und darüber, wie Stadt und Gesellschaft sich ihrer zu erwehren haben.
Das war überfällig. Denn auch wenn Berlin nicht der Mördermoloch ist, für den es gern gehalten wird, und auch wenn die Gruppengewalt Heranwachsender in Berlin stark zurückgegangen ist: Der Tod von Jonny K. offenbart einen Abgrund, nicht nur der Berliner, sondern der bundesdeutschen Gesellschaft. Wer ihn überwinden will, muss eine andere Gangart einlegen. Das aber erfordert mehr als Empörung.
Es reicht nicht, sich über den Rechtsstaat zu mokieren
Es reicht nicht, sich über den Staat zu mokieren, der jetzt wie ein Depp dasteht. Zwei Wochen nach der Tat hat nicht die Polizei, sondern die Bild-Zeitung den Hauptverdächtigen in der Türkei aufgespürt. Der 19-jährige Ex-Boxer, der schon öfter als Gewalttäter auffiel, gab dort munter ein Interview, in dem er beteuerte, er sei weder ein Totschläger noch auf der Flucht, sondern nur mit seinem Vater auf Reisen.
Das kann glauben, wer mag. Hoffentlich hat der Mann für sein Interview kein Geld bekommen. Das wäre angesichts des Tatvorwurfs eine Sauerei. Aber auch, wenn es sich um eine respektable Reporterleistung handelt: Manchmal muss man dankbar sein, dass der Rechtsstaat nicht immer mithalten kann und will mit den Medien und dem öffentlichen Zorn.
Es war richtig, dass ein Berliner Haftrichter die Nerven behielt und einen 19-jährigen Verdächtigen auf freien Fuß gesetzt hat. Gegen ihn wird nicht wegen des Tötungsdelikts ermittelt; er soll einen Freund von Jonny K. verletzt haben. Dafür kommt ein Heranwachsender nicht in U-Haft, zum Glück. Dass ein 21-Jähriger, der sich zwischenzeitlich in die Türkei abgesetzt hatte, erst nach einer Beschwerde festgesetzt wurde, kann man dagegen kritisieren. U-Haft dient nicht der Abschreckung, aber sie darf auch dazu beitragen.
Es stimmt, der Rechtsstaat ist ein kompliziertes, oft schrecklich träges Wesen. Aber wer sich ein Deutschland wünscht, das jetzt die Türkei mal eben den Hauptverdächtigen wegfischt, stelle sich vor, die Türkei täte das in Berlin. Der Aufschrei wäre groß.
Nur rechtsstaatlich tadelloses Vorgehen kann den Tätern zur gerechten Strafe verhelfen. Die darf im Fall Jonny K. gern hart ausfallen. Doch selbst, wenn es dazu kommt: Die Ursache der Gewalt wird damit nicht behoben. Sie liegt in Totalausfall bei Menschenbildung und Erziehung, im Fehlen echten Selbstbewusstseins und demokratischer Gesinnung. Versagt haben da Eltern, aber auch ein Bildungswesen, das die ganz unten entkommen lässt.
Jonny K. hat dafür mit dem Leben bezahlt.