Heranwachsender, §§ 105 JGG: Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht?

Die Beantwortung der Frage ob ein Heranwachsender, der sich strafrechtlich vor Gericht verantworten muss, nach Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen ist, hat meist enorme Auswirkungen hinsichtlich des Strafmaßes. So steht beim Jugendstrafrecht stets der Erziehungsgedanke im Vordergrund, woraus eine große fein justierbare Sanktionspalette zur Verfügung steht. Beim Erwachsenenstrafrecht geht es zumeist um Geldstrafe oder Freiheitsstrafe, Nebenfolgen, Maßregeln. Eine nachlässige Prüfung des Tatgerichts kann einen erfolgsversprechenden Revisionsgrund darstellen.

Das Kammergericht stellt in der Entscheidung zum Aktenzeichen (4) 121 Ss 170/12 (202/12) vom 23.08.2012 http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE201382013&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10 folgendes festgestellt:

Leitsatz

1. Die Frage, ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im Wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein erheblicher Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Die Anwendung von Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht steht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme. Wenn dem Tatrichter nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben, muss er die Sanktion dem Jugendstrafrecht entnehmen.

2. Als Jugendverfehlung kommt grundsätzlich jede Tat in Betracht, bei der der Einfluss allgemeiner Unreife des Heranwachsenden wesentlich mitgewirkt hat. Auch bei Taten, die vom äußeren Erscheinungsbild her nicht erkennbar von jugendlicher Unreife geprägt sind, kann es sich um Jugendverfehlungen handeln, wenn die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung den Antriebskräften der noch jugendtümlichen Entwicklung des Täters entspringen. Verstöße gegen die Abgabenordnung können ebenfalls unter § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG fallen.

 

Jugendstrafrecht Berlin: Die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 2. Alt Jugendgerichtsgesetz (JGG)

Das Kammergericht hat sich im Beschluss vom 17.02.2012 zum Aktenzeichen (4) 1 Ss 540/11 (336/11) mit dem Merkmal der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG (Jugendgerichtsgesetz) auseinandergesetzt. Die Entscheidung ist hier zu finden: http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE216692012&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10

§ 17 JGG regelt die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe und lautet:

(1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung.
(2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.
Wird in den Urteilsfeststellungen die „Schwere der Schuld“ lediglich unter Bezugnahme auf die äußere Tatseite begründet, so sollte über die Einlegung eines Rechtsmittels nachgedacht werden. Insoweit bietet der Beschluss des KG vom 17.02.2012 eine wertvolle Darstellung des Meinungsstandes des KG und damit eine gute Argumentationshilfe.  Die Leitsätze lauten:

1. Entscheidend für die Schwere der Schuld i.S.d. § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG ist die innere Tatseite, d. h. inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Jugendlichen in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat, insbesondere die Bewertung des Tatunrechts, die in den gesetzlichen Strafandrohungen ihren Ausdruck findet, darf daneben nicht unberücksichtigt bleiben. Die Schwere der Schuld ist vor allem bei Kapitalverbrechen zu bejahen und wird daneben in der Regel nur bei anderen besonders schweren Taten in Betracht kommen.

2. Jugendstrafe darf nur verhängt werden, wenn und soweit dies aus erzieherischen Gründen auch zur Zeit der Urteilsfindung noch erforderlich ist. Das Urteil muss nämlich erkennen lassen, welche konkreten erzieherischen Wirkungen von der Jugendstrafe ausgehen sollen. Dies gilt auch für die reine Schuldstrafe nach § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG.