Heranwachsende, § 105 JGG: Anwendung von Erwachsenen- bzw. Jugendstrafrecht

Der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts musste sich in seinem Beschluss vom 04.01.2010 zum Aktenzeichen 1 Ss 105/09 mit der oftmals schwierigen Abgrenzung der Anwendung von Erwachsenen- bzw. Jugendstrafrecht auseinandersetzen. Dieses Problem stellt sich in der Praxis sehr häufig. Für den Verteidiger stellt sich dann die Aufgabe, unter Abwägung der Interessen seines jungen Mandanten das für ihn beste Ergebnis zu erreichen. Dazu gehört bereits die dezidierte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Anwendbarkeit des Jugend- oder Erwachsenenstrafrechts. Dies gilt bereits für die erste Instanz. Aber auch hinsichtlich der Entscheidung ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll oder nicht ist die Frage von herausgehobener Relevanz. Das Tatgericht muss bei einem Heranwachsenden die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht ausreichend und ausführlich begründen, nicht schlicht floskelhaft. Insbesondere ist auf das Vorliegen einer Reifeverzögerung einzugehen. Es genügt nicht festzustellen, dass erhebliche Entwicklungsdefizite in der Person des Angeklagten im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG in Übereinstimmung mit den Feststellungen der Jugendgerichtshilfe nicht festzustellen seien.

Der Heranwachsende im oben genannte Fall war bei Begehung der Straftaten 19 Jahre und 7 Monate alt und damit Heranwachsender gem. § 105 JGG.

Ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleich stand, ist im wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein erheblicher Ermessensspielraum eingeräumt wird (vgl. BGH NStZ 1989, 574 m. w. N.).

Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Hat der Heranwachsende dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist er nicht mehr einem Jugendlichen gleichzustellen und auf ihn ist allgemeines Strafrecht anzuwenden. Die Anwendung von Jugendstrafrecht oder allgemeinem Strafrecht steht nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG stellt keine Vermutung für die grundsätzliche Anwendung des einen oder des anderen Rechts dar. Wenn allerdings dem Tatrichter nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel verbleiben, muss er die Sanktionen dem Jugendstrafrecht entnehmen (vgl. hierzu BGH NStZ 2004, 294 ff.; BGH NStZ-RR 2003, 186 ff. m.w.N.).

 

Das Amtsgericht hätte vielmehr in einer Gesamtschau alle für die Entwicklung des Angeklagten maßgeblichen Umstände eingehend würdigen müssen, um die Entscheidung für das Revisionsgericht nachprüfbar zu machen. Die bloße Verneinung von Anhaltspunkten für Entwicklungsdefizite reicht nicht aus. Es müssen vielmehr Tatsachen und rechtliche Schlussfolgerungen dargelegt werden, auf denen die konkrete Entscheidung beruht. Das Rechtsmittelgericht muss erkennen können, dass bei den Ermittlungen alle Möglichkeiten der Anwendung von Jugendstrafrecht ausgeschöpft wurden (vgl. OLG Hamm, StV 2001, 182).

Die Einschätzung der angehörten Jugendgerichtshilfe ist inhaltlich im Einzelnen nicht mitgeteilt worden, sondern lediglich ihr Ergebnis. Die nähere Auseinandersetzung mit der bisherigen sittlichen und geistigen Entwicklung des Angeklagten ist nicht erfolgt. Nach den Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten bestand jedoch durchaus Anlass zu entsprechenden Abwägungen. Mehrere Umstände in der Entwicklung des Angeklagten, so die bereits im Kindesalter festgestellte Lernbehinderung durch Schwierigkeiten im Auffassungs- und Konzentrationsvermögen, die Schwierigkeiten im Kontakt zu Gleichaltrigen bis zum Oberschulalter, die von dem Angeklagten schwer verkraftete Trennung der Eltern, der fehlende Schul- und Ausbildungsabschluss, die fehlende Kontinuität bei der Arbeitsaufnahme und die frühe Vaterschaft, könnten auf eine Reifeverzögerung hinweisen. Allein die Tatsache, dass er mit der (noch jüngeren) Mutter seines Kindes zusammen lebt, rechtfertigt die Annahme, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt einem jungen Erwachsenen gleichgestanden habe, nicht.

 

Pflichtverteidiger – Notwendige Verteidigung

Pflichtverteidiger = Verteidiger 2. Klasse?

Keinesfalls! Wird jemandem ein Pflichtverteidiger bestellt, bedeutet dies, dass ein Fall der sog. notwendigen Verteidigung vorliegt. Diese Fälle sind in § 140 Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Notwendige Verteidigung deshalb, weil ein mutmaßlicher Täter in diesen Fällen mit seiner Verteidigung nicht auf sich alleine gestellt werden soll und kann. Maßstab ist dabei beispielsweise die Bedeutung und/oder die rechtliche und tatsächliche Schwierigkeit der Angelegenheit, die zu erwartende Strafe, die Eingangsinstanz. Mit anderen Worten sind dies Fälle, in denen sich ohnehin niemand ohne anwaltliche Vertretung vor Gericht verantworten sollte. Hat jemand bereits einen (Wahl-)Anwalt, so wird zunächst auch nicht automatisch ein Pflichtverteidiger beigeordnet, weil ja dann bereits die Verteidigung gesichert ist. Der Wahlanwalt kann bei Bedarf einen Beiordnungsantrag stellen.

Ohne Verteidiger dürften die in § 140 StPO genannten Verfahren nicht gegen den Angeklagten geführt werden. Sinn und Zweck ist die Sicherstellung eines fairen Verfahrens, eine Waffengleichheit. Dies ist auch der Grund, weshalb ein Pflichtverteidiger zunächst aus der Landeskasse bezahlt wird, und im Nachhinein grundsätzlich diese Gebühren vom Verurteilten an das Land zurückzuzahlen sind. Ein Pflichtverteidiger hat nicht mit der finanzielle Situation des Angeklagten zu tun, Geld spielt bei der Frage der Notwendigkeit der Verteidigung keine Rolle. Niemand hat in Deutschland das Recht auf einen Pflichtverteidiger nur weil er oder sie vermögenslos ist.

Die Pflichtverteidigergebühren liegen unter den Mittelgebühren des Wahlverteidigers. Das bedeutet aber nicht, dass er oder sie eine schlechtere Arbeit abliefert, also ein Verteidiger zweiter Klasse ist.

Wird man als Angeklagter aufgefordert einen Pflichtverteidiger zu benennen, so kann man den Anwalt seines Vertrauens fragen, ob er oder sie die Verteidigung übernehmen kann. Das ist natürlich praktisch, weil dann meist schon ein Vertrauensverhältnis besteht und man auf die Wahl des Verteidigers direkten Einfluss ausüben kann. Ein seriöser Rechtsanwalt lehnt eine Pflichtverteidigung ab, wenn er der Auffassung ist, den Mandanten nicht 100%ig vertreten zu können. Insoweit darf es in der Verteidigertätigkeit keinen Unterschied zu der Tätigkeit eines besser bezahlten Wahlverteidigers geben. Vertrauen und Transparenz sind hier wichtig. Niemand ist im Übrigen daran gehindert, seinem Verteidiger Vorschüsse oder zusätzliche Gebühren zu zahlen.

Hat man keinen Anwalt oder kennt man keinen Anwalt, so ordnet das Gericht einen Verteidiger bei. Dabei schöpft das Gericht aus einem Pool erfahrener Strafverteidiger.

Selbstverständlich übernehme auch ich Pflichtverteidigungen. Kontaktieren Sie mich:

Rechtsanwältin Nina Wittrowski

http://www.kanzlei-wittrowski.de

Hier der Gesetzestext:

§ 140 Notwendige Verteidigung

(1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn

1. die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet;

2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird;

3. das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;

4. gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 6 vollstreckt wird;

5. der Beschuldigte sich mindestens drei Monate auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird;

6. zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt;

7. ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird;

8. der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist.

(2) In anderen Fällen bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, daß sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann – namentlich, weil dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Dem Antrag eines hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten ist zu entsprechen.

(3) Die Bestellung eines Verteidigers nach Absatz 1 Nr. 5 kann aufgehoben werden, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wird. Die Bestellung des Verteidigers nach Absatz 1 Nr. 4 bleibt unter den in Absatz 1 Nr. 5 bezeichneten Voraussetzungen für das weitere Verfahren wirksam, wenn nicht ein anderer Verteidiger bestellt wird.